pte20081104029 Politik/Recht, Medien/Kommunikation

Folterinstrument Internet: Südkorea greift durch

Kontrollgesetz gegen Cybermobbing schränkt anonyme Postings ein


Cybermobbing ist in Südkorea an der Tagesordnung (Foto: pixelio.de/geralt)
Cybermobbing ist in Südkorea an der Tagesordnung (Foto: pixelio.de/geralt)

Seoul (pte029/04.11.2008/13:30) Im Hightech-Land Südkorea wird derzeit heftig über weitgehende Internetregulierungen diskutiert. Seit dem Freitod der bekannten Schauspielerin Choi Jin Sil rückt eine Gesinnung der Südkoreaner in das Blickfeld der Öffentlichkeit, die so offenbar nur im Web gezeigt wird. Die im realen Leben sehr zurückhaltenden Menschen legen im Internet eine äußerst brutale Haltung an den Tag. Dies manifestiert sich in aggressivem Cybermobbing, wobei unter dem Schutzmantel der Anonymität Gerüchte verbreitet und Hasstiraden auf ungeliebte Menschen losgelassen werden. Die südkoreanische Regierung reagiert nun mit einem nach der Schauspielerin benannten Gesetz, das festschreibt, dass Postings nur mehr unter dem realen Namen geschrieben werden dürfen. Eine Internet-Sitten-Polizei soll darüber wachen.

Mit dem "Choi-Jin-Sil-Gesetz" soll ähnlichen Cyber-Attacken fortan Einhalt geboten werden. Kritiker sehen jedoch mehr als das reine Schutzbedürfnis der Bürger von virtuellen Lynchmobs. Vielmehr sei die Meinungsfreiheit in Gefahr, der Staat würde mit polizeilichen Überwachungsmaßnahmen versuchen, Kontrolle über die Diskussionen im Internet erhalten. Die Opposition wirft der Regierung vor, den tragischen Tod lediglich zu missbrauchen, um das eigene Ziel einer stärkeren Internetregulierung umsetzen zu können. Der Regierung gehe es in erster Linie darum, das Web als beliebte Plattform für regierungskritische Proteste zu kontrollieren (pressetext berichtete: http://pte.at/pte.mc?pte=081014032).

Südkorea mauserte sich in den vergangenen Jahren zum bestverkabeltsten Land der Welt. Fast alle Haushalte haben Zugang zu einer schnellen Internet-Leitung, unter den Jüngeren unterhält nahezu jeder eine eigene Homepage. Abertausende Internet-Cafés übersäen das Land, überall sprießen junge, kreative Firmen im Netz, berichtet das Nachrichtenmagazin Spiegel. "Visionäre glaubten sich bereits im Zeitalter der Internet-Demokratie, in der offener Online-Diskurs für alle herrscht. Edle Netzbürger, die 'netizens', sollten diese Cyber-Gesellschaft beseelen, Transparenz schaffen und Wahrheit finden." Der Umgang mit modernster Kommunikationstechnik macht aber noch lange keine moderne Gesellschaft. Die Südkoreaner lassen online die Sau raus. Kinder, Hausfrauen und Büromenschen verwandeln sich in Stalker, Gerüchteerfinder und Rufmörder. Aus dem demokratischen Internet wird ein Folterinstrument.

Es wäre allerdings falsch, so der Internet-Experte Udo Nadolski, mit staatlichen Online-Schnüffeleien zu reagieren und Zensurregeln einzuführen, wie es die südkoreanische Regierung plant: "Das wäre der erste Schritt in die Unfreiheit. Da das Internet ein öffentliches Medium ist, sollten aber die gleichen Regeln gelten wie bei den traditionellen Medien. Die Verlage sind juristisch verantwortlich für die Verlautbarungen ihrer Redakteure. Gleiches muss auch für die Portalbetreiber gelten", fordert Nadolski, Chef des Düsseldorfer Beratungshauses Harvey Nash http://www.harveynash.com/de/ . Der Silicon Valley-Unternehmer Andrew Keen http://andrewkeen.typepad.com sieht das genauso. "Solange die Betreiber von Websites und Blogs nicht für deren Inhalte zur Rechenschaft gezogen werden können, haben sie kaum einen Anreiz, die Informationen, die bei ihnen ins Netz gestellt werden, zu hinterfragen oder zu bewerten", sagt Keen, Autor des kürzlich veröffentlichten Buches "Die Stunde der Stümper - Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören" (Hanser Verlag). Im Web könnten sich Falschinformationen, selbst wenn sie nur aus einer einzigen Quelle stammen, mit furchterregender Geschwindigkeit verbreiten. Das Internet sei mit falschen Identitäten gesättigt: mit falschen Bloggern, falschen Profilen auf MySpace, falschen Starlets auf YouTube, falschen E-Mail-Adressen und mit falschen Rezensenten auf Sites wie Amazon, von denen einige eindeutig einen persönlichen Rachfeldzug führten.

Die Anonymität sei der Humus für Meinungswillkür, so Wolf Lotter, Redakteur von brand eins http://www.brandeins.de . "Derlei ist nicht schützenswert, sondern gefährlich. Anonymität fördert die Feigheit und stützt alle jene, die gegen eine offene Gesellschaft sind. Eine offene Gesellschaft erträgt unterschiedliche Meinungen und Positionen. Feigheit aber ist die Vorhut der Tyrannen, sie ist ihre stärkste Legion", sagt Lotter. Große Portalanbieter dürften es den Netz-Hetzern nicht zu einfach machen, fordert Harvey-Nash-Manager Nadolski: "Wer sich registriert, muss seine wahre Identität nachweisen. Das ist bei Online-Geschäften eine ganz normale Sache und sollte auch für die Web-2.0-Welt gelten. Dann ist zumindest ein erster Schritt für mehr Offenheit getan. Man bekommt das Problem nie vollständig in den Griff. Es gibt im Cyberspace einfach zu viele Möglichkeiten, sich zu verstecken."

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